Vor einiger Zeit tauchte beim Umzug des Moritzbastei-Verwaltungsbüros eine selbstgebrannte CD auf. Darauf war der handschriftliche Vermerk „Hörfunk Sendung 1989 zur Bastei / NT (oder VT) 1999“ zu lesen. Die CD lag eine Weile auf meinem Schreibtisch, ein CD-Laufwerk hat keiner der Rechner im MB-Büro mehr. Als sich endlich die Gelegenheit fand, zu Hause in die CD reinzuhören, offenbarte sich eine faustdicke Überraschung: bei der Hörfunksendung handelt es sich um ein Radiofeature von 1996, das auf der Tondokumentation einer Podiumsdiskussion in der Moritzbastei vom 15. Oktober 1989 basiert.
Das Foto oben könnte von dieser Podiumsdiskussion stammen, im MB-Archiv findet sich keine nähere Zeit- und Ortsangabe dazu. Der Rektor der Universität hatte zu dieser Diskussion unter dem Titel „Der Sozialismus der Neunziger Jahre“ geladen, fast 2000 Menschen wollten sich an diesem 16.10.19 darüber austauschen, wie es nach der ersten Großdemonstration des Herbstes 1989 weiter gehen sollte mit ihrer Gesellschaft und ihrem Land.
Das Tondokument gibt die Atmosphäre, die Widersprüche und die Erregung dieser Herbsttage so unmittelbar wieder, dass man versucht ist, den Atem anzuhalten beim Zuhören. Wir danken dem MDR und Autor Matthias Thalheim, dass wir die Sendung, die unter dem Titel „Als gestern heute war“ erstmalig am 1.10. 1996 ausgestrahlt wurde, hier noch einmal wiedergeben dürfen.
Mit der Transkription der Einführung in das Tondokument, die noch einmal die historische Situation des Spätsommers und des Herbstes des Jahres 1989 aufziehen lässt, beenden wir diesen Beitrag zur Moritzbastei-Geschichte. Sprecherin ist Maria Dahms.
Vielerorts und vielfältig wird in diesen Wochen an den Herbst `89 erinnert. Auch wir werden in dieser und den folgenden zwei Sendungen auf dieses Thema eingehen. Am Anfang soll eine Sendung von Matthias Thalheim mit einem Tondokument aus Leipzig stehen, die wir im Oktober 1996 erstmalig gesendet haben.
Ich weiß nicht, wie es ihnen geht. Aber inzwischen hat man beim Erinnern an den heißen Herbst `89 schon eine gewisse Mühe, die Ereignisse in die richtige Abfolge zu bringen. Also versetzen wir uns zurück in den Spätsommer des Jahres 1989.
Am 19. August: Massenflucht von über 500 DDR-Bürgern bei Sopron nach Österreich. Mitte des Monats treten die Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratie jetzt und Demokratischer Aufbruch an die Öffentlichkeit. Ende September demonstrieren in Leipzig im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche erstmalig 5000 Menschen auf dem Promenadenring. Nach den Reiseeinschränkungen für Ungarn werden die DDR-Botschaften in Warschau und Prag belagert, den Besetzern in Prag wird schließlich die Ausreise zugesichert. Gleichzeitig wird am Dienstag, den 3. Oktober, der visafreie Reiseverkehr in die CSSR gestoppt. Die Züge aus Prag werden über Dresden geleitet wo es am Hauptbahnhof zu schweren Auseinandersetzungen mit Polizei, Kampfgruppen und Staatssicherheit kommt. Diese Auseinandersetzungen halten bis zum Wochenende an.
Zum 40. Jahrestag der DDR, der am Sonnabend, den 7.Oktober gefeiert wird, werden hunderte von Gegendemonstranten festgenommen. Am Montag, den 9. Oktober, sind die Blicke aller nach Leipzig gerichtet. Es kommt, obwohl nach den Ereignissen der letzten Tage mit dem Schlimmsten, dem Schusswaffeneinsatz gerechnet werden muss, zur bisher größten nichtgenehmigten Demonstration in der Geschichte der DDR. Etwa 70.000 Menschen nehmen an ihr teil. Sie verläuft ohne ernste Zusammenstöße. Vorausgegangen war ein Besonnenheitsaufruf von SED-Funktionären und Künstlern, darunter Kurt Masur und Bernd-Lutz Lange.
Das inzwischen historische Tondokument, das sie nun in Ausschnitten hören werden, stammt vom darauffolgenden Sonntag, den 15. Oktober 1989. Der Rektor der Karl-Marx-Universität Leipzig, Professor Horst Hennig, hat zu einem politischen Frühschoppen um 10 Uhr in den Studentenklub Moritzbastei eingeladen. Thema: „Der Sozialismus der Neunziger Jahre“. Auf der Bühne der überfüllten Veranstaltungstonne haben neben dem Rektor zwei Unterzeichner des Aufrufs vom vergangenen Montag Platz genommen. Roland Wötzel, Sekretär der SED-Bezirksleitung, und der Kabarettist Bernd-Lutz Lange. Der vierte in der Podiumsrunde ist der Theologe Professor Kurt Nowak.
An die 2000 Leipziger sind an die Moritzbastei gekommen. Das Gespräch muss in die ebenfalls überfüllten Gewölbe per Lautsprecher übertragen werden. In der Luft liegt die Frage, wie es am morgigen Montag weitergehen wird. Das Neue Forum ist eine verbotene, als staatsfeindlich deklarierte Gruppierung. Die offizielle Zulassung des Forums, das vier Wochen später am 8. November erfolgen wird, ist zu diesem Zeitpunkt nicht in Sicht.