Seitdem wir 2009 zum ersten Mal eingeladen worden sind, markiert das gastrophonische Neujahrssingen unseren Start ins neue Jahr. Diesmal war alles traumhaft, angefangen bei unserem Beitrag, der Moritzbastei-Quote auf der Bühne bis hin zu den „golden girls“ backstage.
Seit 2007 ist am ersten Januarwochenende in Leipzig das „Millieu zu Gast bei Freunden“. So untertitelte Paul Fröhlich „sein“ Neujahrssingen, zu dem er die Leipziger Gastronomen im Januar 2007 in „seine“ naTo einlud. Wie alle glücklichen Ideen war auch die des Neujahrssingens einfach: eine professionelle Band spielt auf der Bühne bekannte Schlager, Gastronomen schlüpfen in die Rolle der Gesangsinterpreten. Möglichst mit Haut und Haar, ausdrücklich gewünscht ist ein in Perücke, Kostüm und Bühnenshow lebensechtes Nacheifern der großen Idole. Gesungen werden soll zwar auch, aber möglichst, ohne dem Spaß Abbruch zu tun. Wie gesagt, eine geniale Idee.
Mit dem Neujahrssingen hatte sich Paul Fröhlich neben Badewannen– und Seifenkistenrennen eine dritte, geradezu maßgeschneiderte Show für seine Entertainerqualitäten geschaffen. Wer die Austragungen in der naTo, im UT Connewitz und 2009 im Werk II gesehen hat, dem war klar: Das war zu 50 Prozent Pauls Show. In manchen Momenten lieferten die Gastronomen geradezu die Musikpause zwischen Pauls Moderationen.
Ich sehe noch genau vor mir, wie er 2008 die Gastronomen in der Generalprobe anpeitschte, alles aus sich herauszuholen. Schritte vortanzte, immer wieder kleine in große Gesten korrigierte – „Du BIST jetzt Amanda Lear, ZEIG es!“ Sobald er auf der Bühne stand, war er Rampensau – egal, ob Probe oder zur Showtime. Und weil diese Show Pauls Show war, bedurfte es eines tiefen Durchatmens, sie fortzuführen. Dass seine Freundin Maike Beilschmidt sich dazu – ganz sicher in Pauls Sinne! – entschied, war goldrichtig. Wie das Neujahrssingen am 7. Januar 2012 im Anker wieder einmal bewies.
Ganz ehrlich, am Anfang wurmte es Rick und mich ein wenig, dass die Gastronomen 2007 und 2008 feierten, ohne die Moritzbastei einzuladen. Als dann für die Austragung 2009 die Anfrage kam, zierten wir uns dementsprechend – um dann als „Rote Gitarren“ (ein Herzenswunsch von Rick) ins Geschehen einzugreifen. Und wer uns kennt, der weiß: haben wir einmal eine vielversprechende Fährte aufgenommen haben, lassen wir uns nicht so schnell wieder abschütteln! So trat die Moritzbastei 2010 als Depeche Mode an, um ein Jahr darauf zwei herumrempelnde Gallagher-Brüder auf die Bühne des Ankers zu schicken.
Für 2012 war ziemlich schnell klar, dass wir keine Zeit zum Proben haben würden. Urlaub, Dezemberstress in der MB, Weihnachtsurlaub. Von einer opulenten Show brauchten wir als gar nicht erst zu träumen. Meinen Vorschlag, Run DMC und Aerosmith mit „Walk this way“ ins Rennen zu schicken, konnte ich in die Käseritze klemmen. Was tun? Absagen? Nö.
Wir brauchten also etwas, um mit minimalem Aufwand maximalen Jubel auszulösen. Die Entscheidung für „Panic“ von The Smiths war riskant. Ein Indie-Klassiker aus den 80ern, von einer Band, die nie „richtig“ berühmt geworden ist. Und einen Refrain gibt es auch nicht…
Doch die Verlockung war größer. Ich durfte in die Haut von Johnny Marr schlüpfen, einen Helden meiner Jugend! Rick, der alte Fleischfresser, würde neben mir die Hüften des Ultravegetariers Morrissey kreisen lassen! Der Diskoverantwortliche der Moritzbastei schmettert ein Lied, das einen schlechten DJ an den Galgen wünscht!
Das musste reichen, um das Publikum zu überzeugen, auch wenn das wohl eher die massentauglichen Heuler erwarten würde.
Wie sangen AC/DC: „It´s a long way to the top if you want to rock and roll“. So sieht es aus, Freunde. Unsere letzte Probe war am 15. Dezember im Plan B. Von Anfang an war klar, dass die Generalprobe im Anker am 6.1. ohne Rick stattfinden würde, weil der da noch im Weihnachtsurlaub weilte. Nicht klar war, dass mein Gitarrenverstärker just bei dieser Generalprobe den Geist aufgeben würde. Nicht klar war, dass am 5. Januar in den österreichischen Alpen das Schneechaos einbrechen und mich ein eingeschneiter Rick (50cm Neuschnee über Nacht) am 6.1. gegen 20 Uhr anrufen und fragen würde, ob ich notfalls auch alleine singen könnte…
Womit all mein Streben, wenigstens einen Hauch des legendären Marr-Sounds auf die Ankerbühne zu teleportieren, sich als vergeblich erweisen würde. Wenigstens hätte ich mich nicht um einen Ersatz für meinen Verstärker kümmern brauchen… Es war zum Heulen.
Nach einem imaginären Schnaps entschied ich mich jedoch. Rick würde es schaffen! Ich besorgte mir einen Gitarrenamp (Dank an Susanne und Kostas!). Kostümprobe. Die Perücke war dank unserer Küchenfee Franziska vom Bop in einen strubbeligen Pilzkopf zurecht frisiert. Alles oder Nichts, Muchachos!
Das nächste Lebenszeichen von Rick kam am Samstag gegen 10 Uhr: er stecke auf der A8 zwischen Salzburg und München im Stau. Ich schluckte, und versichterte gegen jede Wahrscheinlichkeit: „Zur Generalprobe bist Du in Leipzig!“
Kurz vor drei brach ich auf, holte den Verstärker ab und stand pünktlich 15.30 Uhr zur Generalprobe in der Renftstraße. Alle da. Außer Rick.
Der Trailer startete, die Band setzte ein. Donis stürzte als Andrew Aldritch auf die Bühne und rockte den leeren Saal, ich versuchte derweil backstage, eine vernünftige Einstellung für den mir völlig unbekannten Verstärker zu finden. Wir waren als Showact Nummer drei geplant, in knapp 10 Minuten wurden wir zu zweit auf der Bühne erwartet. Rick hatte am Telefon gesagt, ohne Generalprobe würde er am Abend nicht singen… Unser Songtitel „Panic“ wurde langsam körperlich spürbar, allerdings anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich taumelte zur Produzentin Maike ans Mischpult: „Könnten wir unsere Probe schieben, bis Rick da ist? Er ist auf der Autobahn…“ Maike sah mich fragend an: „Wie, schieben?!?“ Ich: „Na, wir proben einfach später als geplant, wenn Rick da ist…“ Meine flehenden Augen trafen Maikes konsternierten Blick. „Schieben? Warum wollt ihr denn schieben? Rick ist doch da!“
Rumms. Zwölfeinhalb Tonnen Stein, gefallen von meinem Herzen auf den Saalboden des Ankers. Kurz darauf lagen wir uns vor Glück weinend in den Armen, Johnny Marr und Morrissey, nach fünfundzwanzig Jahren wieder vereint im Leipziger Anker! Welche Dramatik, welch irrer Tanz von Adrenalin und Endorphin! Unsere Tränen strömten, als würde aller Schnee der Alpen in einem Moment zusammenschmelzen.
Als wir uns nach diesen ewigen drei Sekunden der Überwältigung wieder gefasst hatten, ging es an die Arbeit. Zeit war nur noch für das Wesentliche. Ja, Rick, Du musst das Mikro aus dem Ständer nehmen. Die Hände so weit weg vom Körper wie möglich, große Gesten! Die Gladiolen in die Hand, die Narzissen in die Arschtasche. Hemd so weit auf wie möglich, Ketten um den Hals. Und das Hemd muss zur Zugabe runter! Rauf auf die Bühne, zweieinhalb Minuten Panic. Falscher Gesangseinsatz zur Generalprobe. Was soll noch schiefgehen…
[mygal=2012nje]
Kurz vor Mitternacht. Ich habe keine Ahnung, wie unser Auftritt gelaufen ist. Mitbekommen habe ich von dem Wahnsinn nur, dass ich mich an entscheidender Stelle prominent verspielt haben muss. Ansonsten war da nur Licht, Musik, Adrenalin und Jubel. Ein einziges Kreischen im Saal, als Mozzer Barkawitz sich zur Zugabe das Hemd vom Leib riss und dabei die Narzissen ins Effektboard des Paratox-Gitarristen geschleudert wurden, was eben jener alles andere als lustig empfand… Später dann tauchten unsere Blumenreste bei den anderen Gastrophonikern immer wieder auf der Bühne auf, geworfen von begeisterten Händen aus dem Publikum.
Kann man es nachvollziehen? Es war ein denkwürdiger Abend. Großartige Shows der Kneiper und Köche, Kellner und Mitarbeiter der beteiligten Etablissements. Alles war – bei aller perfekten Planung – immer charmant unvollkommen. Ein begeisternd mitmachendes Publikum im Anker. Das war das beste Neujahrssingen, das ich bisher miterlebte, auch wenn wir unsere Depeche-Mode-Performance wohl nie werden toppen können. Auf der Bühne gab es so viel Moritzbastei wie noch nie. In den Acts von Ilses Erika und Hotel Seeblick traten ehemalige und aktuelle MitarbeiterInnen auf, und sogar unser Telefoner schaffte es als Publikumsgast auf die Bühne! Unbedingt erwähnt werden muss auch die wirbelnde Weiberschar in Goldpalietten, die auf der Bühne Gloria Jones anfeurte und hinter der Bühne legendär abfeierte. Was für ein Abend!
Im Netzt gibt es mittlerweile einige Videos zu sehen, die natürlich den Charme des Neujahrssingens nur verzerrt wiedergeben. Schiefe Töne und wackelige Bilder – da behaupte noch einer, Augenzeugenaufnahmen vermittelten die Realität! Ich werde mir die Aufzeichnung von JSP aka kronosprojekt mal ansehen und dann entscheiden, ob die Moritzbastei-Smiths öffentlich sichtbar sein sollen. Manchmal ist die schöne Erinnerung viel mehr wert als ein schnödes Video.
Bleibt ein Dankeschön zu sagen an alle Beteiligten, den Anker, Maike Beilschmidt und das komplette Organisations- und Durchführungsteam, an Paratox und den Backgroundchor, an Publikum und alle, die das mit und möglich gemacht haben. Geht in die Kneipen dieser Stadt! Wir ziehen unsere Hüte.
Bilder gibt es natürlich auch: bei LVZ-online und bei kreuzer-online.